Goethebild    Der junge Goethe in seiner Zeit
   Zu dieser Ausgabe

Dies ist der vierte selbständige 'Junge Goethe'. 1875 war der erste in drei Bänden erschienen.(*) Es war ein Unternehmen für Liebhaber im besten Sinne des Wortes, ohne wissenschaftlichen Apparat, als "einladendes Lesebuch" konzipiert und aufgenommen. Abgelöst wurde diese Ausgabe 1909-1912 durch den 'Morris', eine nun sechsbändige Ausgabe, die in ihrer Vollständigkeit und ihren philologischen und sachlichen Annotationen auch alle wissenschaftlichen Ansprüche erfüllte und mehr als ein halbes Jahrhundert als Grundlage jeder genaueren Beschäftigung mit dem jungen Goethe, d. h. dem Goethe vor dem Aufbruch nach Weimar im Herbst 1775, diente.(**) - 1963-1974 erschien der dritte 'Junge Goethe', nun herausgegeben von Hanna Fischer-Lamberg.(***) Diese Ausgabe folgte zwar in Anordnung und Textbestand weitgehend den Vorgaben von Max Morris, hatte aber gleichwohl ganz anderen Charakter: Nach dem Hirzel-Bernaysschen Liebhaber-Lesebuch und dem Morrisschen Unternehmen einer Liebhaber-Ausgabe mit solidem wissenschaftlichem Fundament war dies nun eine rein wissenschaftlich zu benutzende Archivausgabe, in ihren Neuerungen abgezweigt aus dem großen fragmentarischen Unternehmen der Berliner Akademie-Ausgabe.(****)

Literatur- und bildungsgeschichtlich erfüllte der 'Junge Goethe', der erste wie der zweite, eine wichtige Funktion: Während die gleichzeitig vorbereitete bzw. erscheinende große Weimarer Ausgabe, die 'Sophien-Ausgabe' (1887-1919), den Klassiker als nationales Denkmal errichtete, orientiert an dem von ihm selbst geschaffenen Monument der 'Ausgabe letzter Hand', war hier der zugänglichere der Friederike-Gedichte, der aufmüpfige des Götz und des Prometheus, der leidenschaftlich-leidende des Werther zu besichtigen. Das war durchaus im Sinn der Klassiker-Pflege: Je geräumiger die Klassiker konzipiert werden, desto mehr Verschiedenes hat unter ihrem Dach Platz, und eine gewisse Überprofilierung der zweifellos vorhandenen Unterschiede konnte diesen Platz noch erweitern. Daß der dritte 'junge Goethe' dann eher Archivcharakter hatte, kann man als einen Rückzug der Konzeption in den Binnenraum der Wissenschaftlichkeit und insgesamt als Reaktion auf das Verebben der identifikatorischen Goetheverwendung deuten.

Der hier vorliegende vierte 'Junge Goethe', wenngleich wieder vom Verlag des "Morris" betreut, hat nicht den Ehrgeiz, zu dieser zurückzuführen. Die Aktualität des jungen Goethe, die gleichwohl vorausgesetzt wird, ist anderer Art. Es ist eine Aktualität, die sich aus der Kontinuität einer Problemsituation speist. In der bildungsbürgerlichen Literaturverwendung wurde diese Kontinuität unter den teleologischen Leitbegriffen von 'Überwindung' und 'Aufstieg' gedeutet: Überwindung der 'platten' Aufklärung und der Abhängigkeit von den Franzosen, Aufstieg und Zusichselbstkommen des deutschen Geistes, womöglich als Avantgarde des deutschen Reiches, und bis in die jüngste Gegenwart: Aufstieg des 'Bürgertums'. Das ist weitgehend vorbei.

Aber es bleibt ein starker historischer Akzent, der für diese Zeit eine fundamentale Umstellung signalisiert. Ob man an Michel Foucaults Gedanken einer Umstellung der klassischen Episteme auf den modernen Typus der Selbstreflexion denkt oder an das (im Umkreis des Lexikons "Geschichtliche Grundbegriffe" vertretene) Konzept einer Sattelzeit, in der die bislang statisch konzipierten Begriffe in Bewegung geraten, oder an das Konzept einer epochalen Umstellung von stratifikatorischer auf funktionale Differenzierung der Gesellschaft mit ihren Folgen für den modernen Individualitätsbegriff, wie es in der derzeitigen Soziologie vertreten wird: - immer wird man in die Zeit geführt, in der Goethe jung war. Vielleicht darf man sogar die Vorhersage wagen, daß auch künftige geschichtliche Langzeitkonzeptionen, wenn auch vielleicht unter ganz anderen Relevanzzuschreibungen, immer wieder zu einer Privilegierung gerade dieser Zeit kommen werden. Hier fängt etwas an, das auch uns noch umgreift, und wenn denn Gegenwartsorientierung im Horizont der Geschichte sinnvoll ist, dann wird die Zeit des jungen Goethe weiterhin unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen. Nicht etwa, weil es hier etwas nachzuahmen gäbe, sondern weil hier eine Problemerfahrung früh und unverstellt greifbar wird, die später wieder durch Handlungs- und Deutungsroutinen verhüllt wurde. Goethe hat das selbst als Kairos begriffen, als den günstigen Augenblick, der für jedes Gelingen unentbehrlich ist, und er meinte, "ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden seyn" (Dichtung und Wahrheit, Vorwort). Aber das ist auch der Augenblick des Mißlingens, der Katastrophe. So wenig Goethe nur aus sich selbst begreifbar ist, sondern nur im Zusammenspiel mit seiner Zeit, so wenig sind es die von ihm geschaffenen Figuren Götz und Werther, so wenig sein unglücklicher Nachbar Lenz. Goethes Generation ist die erste, die als ganze in eine fundamentale Umstellungsphase der Identitätsbildung gerät, in die Notwendigkeit einer Individualitäts-Definition durch Exklusion. Oder, was fast dasselbe ist: Die erste, die die Chance einer solchen Definition erhält. Oder noch einmal fast dasselbe: Die erste, die die semantischen Mittel erarbeitet, die für eine solche Definition nötig sind.

Goethes eigene Herkunft und Ausbildung ist in vielem typisch: Der Großvater, Friedrich Georg Göthé, ein aus Thüringen stammender Schneider, war nach Frankreich gewandert und hatte dort sein Handwerk vervollkommnet, hatte dann, als Protestant, nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes Frankreich verlassen und war in Frankfurt durch Heirat einer Schneiderswitwe zünftig geworden. Er brachte es damit zwar zu gediegenem Wohlstand, aber der eigentliche Sprung in den Vermögensverhältnissen trat ein, als der Witwer abermals eine Schneiderswitwe heiratete, die ein Wirtshaus mit Weinhandel in die Ehe brachte. Für die Mehrung dieses Besitzes war die Messestadt Frankfurt ein ideales Pflaster, und Göthé wußte das zu nutzen. Seinen Sohn schickte der Schneider und Gastwirt auf eine der besten Schulen des Landes, auf das Gymnasium Casimirianum in Coburg. Johann Caspar studiert das vornehmste, teuerste und karriereträchtigste der Fächer, die Jurisprudenz, und er absolviert die für Angehörige der höheren absolutistischen Verwaltung unerläßliche Bildungsreise mit den obligatorischen Stationen, Rom, Neapel und Paris. Nach der Rückkehr erwirbt er den Titel eines Kaiserlichen Rates und heiratet die Tochter des Stadtschultheißen. Der Sohn des Aufsteigers Goethé ist geradezu sklavisch dem Muster gefolgt, das seit mehr als hundert Jahren eine erfolgreiche bürgerliche Karriere im absolutistischen Staat mit Nobilitierung oder Aufstieg ins Patriziat verbürgte. Aber er bleibt schließlich im Dickicht der Frankfurter Verhältnisse stecken und führt fortan ein Leben als Rentier. Erst Goethe III., Johann Wolfgang, schafft den Sprung, wird Geheimrat in einem kleinen thüringischen Fürstentum und erhält 1783 das Adelsprädikat.

Das wären die Daten, wie sie für den Abriß des Lebenslaufes eines absolutistischen Beamten hinreichen würden. Etwas ungewöhnlich wäre daran nur, daß der Handwerker nicht mehr nur einen Handwerker zeugt, aber Wege aus dem traditionellen Bürgertum in die absolutistische Verwaltung gab es schon länger. Selbst daß der Geheimrat ein Dichter war, ist nicht so ungewöhnlich. Auch sonst wurde es positiv vermerkt, wenn ein Mitglied der besseren Gesellschaft in Nebenstunden den Pegasus ritt und mit Gelegenheitsgedichten, eigenen oder beim Professor für Rhetorik gekauften, aufwartete. - Neu aber ist das begleitende Bewußtsein, mit dem das geschieht. Zwei eng miteinander zusammenhängende Momente sind für dieses Bewußtsein kennzeichnend: Die problemabsorbierende Kraft der alten Ordnungen mit ihren Regulierungen von Handeln und Erleben läßt nach, damit erhöhen sich die - scheinbaren oder tatsächlichen - Spielräume der Freiheit und damit gibt es immer mehr, was mit dem Bewußtsein eigener Entscheidungsvollmacht und -notwendigkeit getan wird. Goethe hat diesem Bewußtsein in einem Brief an Lavater vom 10. 9. 1780 besonders plastischen Ausdruck verliehen:

"Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Lufft zu spizzen, überwiegt alles andre und läßt kaum Augenblickliches Vergessen zu. [...] vielleicht bricht mich das Schicksal in der Mitte, und der babilonische Thurn bleibt stumpf unvollendet. Wenigstens soll man sagen es war kühn entworfen und wenn ich lebe, sollen wills Gott die Kräfte bis hinaus reichen."

Die Vorstellung vom Leben als Kunstwerk, die Goethe immer wieder einmal unterstellt wird, hat hier ihren Realgrund, im Bewußtsein der Notwendigkeit nämlich, das eigene Leben als plastisches Material zu begreifen, das in die Welt hinein zu gestalten ist, vielleicht nicht als Kunst-, aber doch als Bauwerk. Das zweite Moment ist die Entstehung einer Semantik von Individualität, die diese Entwicklung, von ihr ermöglicht und sie ermöglichend, begleitet. Je gewichtiger die Entscheidungs- und Gestaltungslasten werden, die das Ich zu tragen hat, desto notwendiger ist es, dieses Ich wiederum in einem Umgreifenden zu verankern. Das können nicht mehr die alten Regel- und Wertesysteme sein, die ja nun jederzeit in Frage und zur Disposition gestellt werden können. Eher schon kann ein unaussprechlicher 'Consensus' diese Aufgabe erfüllen: Die Vorstellung, daß die verschiedenen kontingenten, als bloß historisch-jeweilig gültig durchschauten Wertordnungen als gleichursprüngliche sinnliche Manifestationen einer dahinter stehenden, nach wie vor absoluten Wahrheit zu gelten haben, die freilich direkt nicht mehr greifbar ist. Es ist die alte Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, die hier eine neue Aktualisierung findet: Die Erscheinung (in der Sprache der Zeit auch: das Positive) im Partikularen, Kontingenten ist unabdingbar, wo Menschen ihr Leben zu fristen und miteinander umzugehen versuchen. Das Wesen aber, das immer irgendwie das unverkürzte Weltganze sein soll, ist nur im individuellen Erfassungsakt greifbar. Man kann davon berichten, daß man es erfahren hat. Aber es ist selbst inkommunikabel. Im Brief an Lavater und Pfenninger vom 26. 4. 1774 hat Goethe das programmatisch verdeutlicht. Vorausgegangen war offenbar einer der Bekehrungsversuche der wunder- und christusgläubigen Schweizer, und Goethe antwortet nun:

Binn ich nicht resignirter im Begreifen und Beweisen als ihr? Hab ich nicht eben das erfahren als ihr? - Ich bin vielleicht ein Tohr dass ich euch nicht den Gefallen thue mich mit euern Worten auszudrücken, und dass ich nicht einmal durch eine reine Experimental Psychologie meines Innersten, euch darlege dass ich ein Mensch binn, und daher nichts anders sentiren kann als andre Menschen, dass das alles was unter uns Widerspruch scheint nur Wortstreit ist der daraus entsteht weil ich die Sachen unter andern Combinationen sentire und drum ihre Relativität ausdrückend, sie anders benennen muss
Welches aller Controversien Quelle ewig war und bleiben wird.
Und dass du mich immer mit Zeugnissen packen willst! Wozu die? Brauch ich Zeugniss dass ich binn? Zeugniss dass ich fühle? - Nur so schäz, lieb, bet ich die Zeugnisse an, die mir darlegen, wie tausende oder einer vor mir eben das gefühlt haben, das mich kräftiget und stärcket.
Und so ist das Wort der Menschen mir Wort Gottes es mögens Pfaffen oder Huren gesammelt und zum Canon gerollt oder als Fragmente hingestreut haben. Und mit inniger Seele fall ich dem Bruder um den Hals Moses! Prophet! Evangelist! Apostel, Spinoza oder Machiavell. Darf aber auch zu iedem sagen, lieber Freund geht dir s doch wie mir! Im einzelnen sentirst du kräfftig und herrlich, das Ganze ging in euern Kopf so wenig als in meinen.

Hier hat Dichtung ihren besonderen Platz. Sie ist traditionell die Stätte 'uneigentlicher' Rede. In ihr kann deshalb in besonderem Maße auch das neue Bewußtsein Raum finden, daß die Rede unentbehrlich ist, daß sie aber immer auch weit von aller Wahrheit in einem emphatischen Sinn entfernt ist. Sie ist die Stätte, an der Wahrheit nicht mehr, wie in den alten dogmatischen Gehäusen, satzförmig ausgesprochen, sondern in der Kommunikation und in der objektivierenden Selbstvergewisserung sprachlich zur Geltung gebracht wird.

Zugleich ist Dichtung ein Raum der Selbstfindung und Selbstmanifestation, der weit differenzierter und flexibler gehandhabt werden kann als die traditionellen ständischen und religiösen Lebensschemata. Ausgerechnet im Zusammenhang mit den scheinbar konventionellen literarischen Produktionen der Leipziger Studentenzeit fällt in Dichtung und Wahrheit die vielzitierte Grundsatzäußerung:

Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl Niemand nöthiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Confession.

Es geht dabei offenbar nicht um eruptiv-expressive Erlebnisdichtung oder um Exhibition von Seelenzuständen, wie das Wort 'Confession' es modernem Verständnis nahelegen mag, sonden um einen Anschluß an die traditionelle Form des Beichtgesprächs als therapeutische Verbalisierung des vorher Ungeformten, die zur 'Berichtigung' von Begriffen und 'Beruhigung' im Innern führt. Paraphrasiert: Die unter den Bedingungen der modernen Individualitätskonzeption ständig drohende Überforderung des Ich soll aufgefangen werden durch die komplexen Problemformulierungen der Dichtung, die auch dem Diffusen und Überkomplexen Struktur zu verleihen vermag, ohne es doch ins Gehäuse definitiver Deutungen (z. B. der Sündenlehren der Zeit) zu sperren.

Es wird schon hier der Ansatz für einen Funktionswandel der Dichtung sichtbar: vom bloßen Ergötzen oder von der nützlichen Funktion der Unterstützung bekannter Weisheits- und Glückslehren zu einem autonomen Organon der Problemartikulation mit der spezifischen neuen Funktion, ungelöste Probleme zu formulieren, auch wenn keine Lösung angeboten werden kann. Dieser Funktionswandel ist Teil eines kulturellen Wandels, den Goethe in entscheidenden Phasen mitvollzieht. Als Leipziger Student nimmt er das Modernste an Dichtungs- und Lebensart auf, das es im damaligen Deutschland gibt. Im Frankfurter Genesungs-Intervall taucht er, wie erst R. Chr. Zimmermann mit dem nötigen Gewicht betont hat, anscheinend tief ein in die Denkformen der Hermetik und Alchimie, die ihm die grundlegende Figur des 'Consensus' der kontingenten Wahrheitsmanifestationen vermitteln oder zumindest vertiefen. In Straßburg begegnet er Herder, der ihm die Kategorie der Ursprünglichkeit mit dem ganzen anhängenden Komplex des Geniekonzepts, des Volksliedes, der Shakespeareanbetung, der Kunstreligion - und zugleich dem Gedanken der Ursprungsferne der Gegenwart nahebringt. Mit der Rückkehr nach Frankfurt beginnt der Alltag des Rechtsanwalts, das Doppelleben, das dann auch für die Weimarer Existenz konstituierend sein wird. So jedenfalls formuliert er es gegenüber Knebel am 21. 11. 1782: "Wie ich mir in meinem Väterlichen Hause nicht einfallen lies die Erscheinung der Geister und die iuristische Praxin zu verbinden ebenso getrennt laß ich jezt den Geheimderath und mein andres selbst, ohne das ein Geh. R. gut bestehen kann." Es ist eine Konkretion und Spezifizierung jener Doppelheit, die wir oben mit der Formel von Wesen und Erscheinung anzudeuten versucht haben.

Ausdruck des Funktionswandels der Dichtung und des an ihn geknüpften Doppellebens ist auch, daß der Dichterruhm, das heißt: die Übereinstimmung des dichterischen Schaffens mit den Bedürfnissen eines großen Publikums, keineswegs mehr eine notwendige Erfüllung des dichterischen Schaffens ist. Scherzhaft schreibt Goethe in einer Briefepistel an Gotter bei Übersendung des Götz:

Hab's geschrieben in guter Zeit,
Tags, Abends und Nachts Herrlichkeit;
Und find' nicht halb die Freud' so mehr,
Da nun gedruckt ist ein grosses Heer.
Find', dass es wie mit den Kindern ist,
Da doch wohl immer die schönste Frist
Bleibt, wenn man in der schönen Nacht
Sie hat der lieben Frau gemacht.
Das Andre geht dann seinen Gang.

Und ähnlich die Produktionsseite betonend, doch weit ernsthafter, schreibt er in einem Brief vom 7. 3. 1775 an Auguste zu Stolberg: "O wenn ich iezt nicht dramas schriebe ich gieng zu Grund". So kann der dichterische Prozeß sich selbst genügen. Das poetische Werk wird zum bloßen Überbleibsel des poetischen Aktes, nicht etwa unwichtig, aber bedeutend nur als Zeugnis des kreativen Moments. Die meisten der lyrischen Gedichte des jungen Goethe sind nur unter Freunden zirkuliert. Als der Nachdrucker Himburg 1779 alles druckte, was er an Goetheschen Gedichten ermitteln konnte, brachte er nicht mehr als rund 20 Texte zusammen. Darunter weder Wandrers Sturmlied noch An Schwager Kronos noch Prometheus noch Ganymed. Auch Stella war ursprünglich nicht für den Druck gedacht. An die Gräfin zu Stolberg schreibt er bei der Übersendung: "Liebe nur dass es Ihnen nicht aus Händen kommt. Ich mag das nicht drucken lassen denn ich will, wenn Gott will künftig meine Freu[den] und Kinder, in ein Eckelgen begraben oder etabliren, ohne es dem Publiko auf die Nase zu hängen."

Nicht minder authentisch ist die andere Seite der Doppeltheit, der Wunsch zu wirken, sich in die Welt hineinzuproduzieren und ihr das eigene Wesen aufzuprägen. Als Dichter des Götz wird Goethe fast über Nacht nationalen Ruhm erringen, als Dichter des Werther internationalen. Er geht dabei keineswegs so naiv vor, wie das in der Darstellung von Dichtung und Wahrheit zuweilen scheinen mag. Oder er tut zumindest intuitiv das Förderliche. Über Schlosser gerät er an Merck und in den Kreis der Darmstädter Empfindsamen, wird Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Er knüpft die Verbindungen zum Göttinger Sturm und Drang über Gotter und Voß, zu Lavater, Claudius, Klopstock, Bürger, Gerstenberg. Er lebt in Hader mit den Jacobi-Brüdern, pflegt aber intensiv den Kontakt mit der Jacobi-Tante Fahlmer. Er attackiert Wieland, pflegt aber das Verhältnis zur Wieland-Freundin La Roche. Als die Zeit reif ist, wird das Verhältnis zu Jacobi fast zu einer stürmischen Liebschaft, das zu Wieland zu einer fruchtbaren Kooperation. Rasch freundet er sich mit Knebel an, der als eine Art literarischer Sachwalter der Weimarer Hofes wirkt und dafür sorgt, daß bei der ersten Begegnung mit dem Erbprinzen das richtige Buch auf dem Tisch liegt . . . Am 8. Oktober 1777, als er in Weimar sattelfest geworden ist, wird er in sein Tagebuch eintragen: "Regieren!!". Clavigo ist ans Ziel gekommen - vorläufig.

Der Funktionswandel der Poesie geht keineswegs mit einem völligen Neubeginn einher. Die Verhältnisse sind subtiler. Die Innovation ereignet sich in aller Regel als eine Umdeutung und Neukombination traditioneller Elemente. Der Geniebegriff des Sturm und Drang zum Beispiel, der deutlich auf die Problematik der modernen Individualität reagiert, kann sich gleichwohl auf einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition abstützen. Goethe wuchs von früh an in den literarischen Formenschatz seiner Zeit hinein. Er genoß, neben manchen anderen Vorzügen der Ausbildung, eine exzellente poetische Sozialisation. Alljährlich im August, wahrscheinlich zu seinem Geburtstag, hatte er dem Vater einen Band mit 500 Quartseiten poetischer Produktion vorzulegen (vgl. den Brief an Cornelia vom August 1767). In einem Entwurf zu Dichtung und Wahrheit spricht er vom "dritten oder vierten" Band, den er dem Vater bei der Abreise nach Leipzig (1765) überreicht habe. Das wären also insgesamt 1500 bis 2000 Quartseiten gewesen, nicht gerechnet die 'anakreontischen Gedichte', die nach Ansicht des Vaters nicht zählten, weil sie keine Reime hatten. - Während der französischen Besatzung und auch noch danach hatte er Gelegenheit, intensiv das Repertoire des Frankfurter französischen Theaters kennenzulernen, für das der Großvater und Schultheiß Textor ihm eine Dauerfreikarte verschafft hatte. "Ich hatte nun bald den ganzen Cursus der französischen Bühne durchgemacht; mehrere Stücke kamen schon zum zweyten und dritten Mal; von der würdigsten Tragödie bis zum leichtfertigsten Nachspiel war mir alles vor Augen und Geist vorbeygegangen". (Dichtung und Wahrheit 3.).

Immer wieder werden überkommene Form- und Motivelemente umgedeutet und in neuer Funktion eingesetzt. So werden die Konstellationen und Formulierungsmuster des Bürgerlichen Trauerspiels im Götz genutzt, um die Ausweglosigkeit der Weislingen-Figur darzustellen, im Clavigo determinieren sie die eine Seite des Gefühlshaushalts, die mit der anderen, dem Anspruch auf Selbstverwirklichung kollidiert, in Stella müssen sie zerbrechen, wie die Normenkontexte unter dem Druck der radikalen Subjektivierung der Liebe zerbrechen. Das Shakespearisieren des Götz-Dramas bleibt eine einmalige Anwendung dieses Stilgestus, weil er anscheinend besonders gegenstandsadäquat war, aber die Freunde die nun lauter Dramen à la Shakespeare erwarteten, wurden enttäuscht. Die Form war eben nur für diesen Gehalt brauchbar. Daneben wird Ärger in Form von dramatischen Satiren abgelassen und wird, ganz konventionell, das Singspiel genutzt, um der Braut geziemend den Hof zu machen. Der Lyriker Goethe experimentiert einerseits mit der Schlichtheit des Volkslieds, anderseits mit dem ekstatischen Ton Pindars, mit dem Hans Sachsischen Knittelvers, wie er ihn versteht, mit der Form der großen Versepistel, dem Reimspruch . . . Die Prosa wird ihm gleichsam von selbst immer wieder zur Dichtung. Die Toleranz-Abhandlung des Pastors nutzt die Rollenrede, um in der einfachen Sprache des Pastors den Entwurf eines Glaubens auf der Basis von Individualität zu entwickeln. Der Aufsatz über Erwin von Steinbach und das Straßburger Münster steht thematisch eigentlich in der Tradition der Ästhetik-Entwürfe, die in deduktiven Paragraphenfolgen über die Schönheit und die Natur handelten; aber hier spielt sich, trotz ähnlicher Thematik, ganz anderes ab. Mit Recht ist der Aufsatz immer wieder einmal als Prosa-Hymnus angesehen worden, dessen Enthusiasmus auch von den etwas bewegteren Stellungnahmen Shaftesburys, Youngs oder Winckelmanns weit absticht. Auch hier, im Pastorsbrief und im Baukunstaufsatz, geht es um Themen, die um 1770 nicht mehr dogmatisch-diskursiv abgehandelt werden können, aber doch beredet werden müssen. Schließlich der Werther: Auch er knüpft an bei Bekanntem, bei der Briefroman-Mode in der Richardson-Nachfolge. Eben hat Sophie von La Roche mit Wielands Hilfe ihre "Geschichte des Fräuleins von Sternheim" publiziert. Goethe aber greift das Formangebot auf und radikalisiert es zum Gefäß einer - abermals - diskursiv nicht einzuholenden Feier der verzweifelten Individualität.

Diese wenigen Hinweise mögen zur Genüge verdeutlichen, daß 'Der junge Goethe' eigentlich nur bedeuten kann: Der junge Goethe in seiner Zeit, d. h. im Kontext des überindividuellen semantischen Geflechts, in das er eingebettet ist und das die Elemente bereithält, mit denen und gegen die er seine Identität zu begründen sucht und das wiederum auf seinen Beitrag mit Rezeption oder Abstoßung reagiert.

Die technischen Mittel für die Repräsentation dieser intertextuellen Einbettung stellt heute die Elektronik zur Verfügung. Entgegen anderslautenden kulturphilosophischen Verlautbarungen wird sie das Buch vermutlich nicht ersetzen - so wenig die Schrift die mündliche Rede oder der Buchdruck die Handschrift ersetzt hat. Aber sie kann, im Sinne einer zunehmenden Differenzierung, bestimmte Aufgaben übernehmen, für die sie besser geeignet ist als das Buch. Das sind neben der platzsparenden Vorratshaltung von größeren Textmengen vor allem die fast unvergleichbaren Möglichkeiten des Suchens, Verknüpfens, Nachschlagens und 'Surfens'. Domäne des Buches aber bleibt weiterhin das Lesen im klassischen Sinn, zu dem z. B. neben der anderen Art von Verfügbarkeit auch die dreidimensional-haptischen Informationen gehören, die die Elektronik kaum angemessen nachbilden kann. Wir ziehen daraus die Konsequenz und bieten eine integrierte Buch/CD-Ausgabe ('Hybrid-Ausgabe'), bei der die Vorzüge beider Technologien einander ergänzen sollen. Die Buchkomponente kann von der Funktion der Vorratshaltung entlastet werden und auf das Mitschleppen nur gelegentlich zu Rate gezogener Texte verzichten; das ist nicht nur ein Kostenfaktor, sondern macht die Buchkomponente leistungsfähiger bei ihrer genuinen Aufgabe; das Buch wird zugänglicher und 'lesbarer'. Die CD-Komponente vervollständigt den Bereich der Goethetexte, vernetzt sie mit ihren zeitgenössischen Kontexten - auch die Bibel und die antike Mythologie gehören in diesem Sinne zur zeitgenössischen Semantik - und macht sie so zum, gewiß herausgehobenen, Bestandteil eines Hypertextes.

In einer Grundentscheidung bleibt die Ausgabe allerding konventionellen Standards verbunden: Sie ist bewußt als Text-Ausgabe konzipiert, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und zugleich einem gebildeten und neugierigen Publikum dienlich sein will. So weit Bildmaterial eingearbeitet ist, dient es der Erläuterung der Texte und ist diesen zugeordnet. Die Faksimilia wurden auch nicht elektronisch 'restauriert', sondern repräsentieren in ihrer unterschiedlichen Qualität und Lesbarkeit die unterschiedliche Qualität der Vorlagen. Auf Wort- und Musikbeiträge wurde generell verzichtet.

Basiswerkzeug für die Erstellung der Ausgabe war das Textverarbeitungs-System "Winword". Es diente sowohl zur Erfassung der Texte als auch zur Kommentierung und zur Vorbereitung der Hypertext-Verknüpfungen. Die beiden Komponenten wurden als Verzweigungen aus dieser Grundlage entwickelt: Der eine Zweig führte über Laserausdrucke, die als Reprovorlagen dienten, zur Buchkomponente, der andere Zweig führte zur CD-Komponente. Auf diese Weise war größtmögliche Nähe und Kompatibilität der beiden Komponenten gesichert. Als Retrieval-Software für die CD-Komponente wurde das Programm "Folio Views" gewählt, weil es einen relativ leichten Import von Winword-Dateien erlaubt und einen Leistungsumfang besitzt, der sich vergleichsweise gut für philologische Anwendungen zuspitzen läßt.

Eine Zugabe besonderer Art ist die TEI-Version. Bekanntlich leiden elektronische Editionen daran, daß sie zusammen mit ihrer Software veralten, und das geht derzeit sehr schnell. Deshalb wurde von einer internationalen Philologen-Gruppe ein Standard definiert, der dazu dient, Texte programmunabhängig auszuzeichnen: die Text Encoding Initiative (TEI). Unter Auszeichnung versteht man den Eintrag von Informationen in einen Text, die über die bloße Buchstabeninformation hinausgehen, z.B. die Festlegung von Überschriften, von Sprechern im Drama, von Gedichtversen usw. Da der TEI-Standard zur Textauszeichnung auf der etablierten Industrienorm SGML basiert, kann man mit allen SGML-konformen Programmen (z.B. "Panorama Pro" von Softquad) in TEI-Texten suchen, sie anzeigen lassen usw. Die CD enthält kein derartiges Programm. Die umfassendste Liste von SGML-Software findet man unter The Whirlwind Guide to SGML & XML Tools and Vendors im Internet unter http://www.infotek.no/sgml-tool/guide.htm. Eine genauere Erläuterung findet man auf der CD als "readme.txt" im Verzeichnis TEI.

Die Kommentierungsintensität der Ausgabe ist gestuft: Die Werke des jungen Goethe werden in Werkkommentaren und in Einzelstellen-Kommentaren erläutert, ebenso die ausgewählten Briefe und Tagebücher. Dieser Teil der Textmenge erscheint sowohl in der Buchkomponente als auch in der CD-Komponente. Die Einzelstellenkommentare sind in der Buchkomponente als Fußnoten, in der CD-Komponente als Popups angeboten. Namen werden nur dann erläutert, wenn sie nicht als Klartext erscheinen; sonst ist dafür generell das Namenglossar zuständig.

Bei Texten, die nur auf der CD wiedergegeben sind, beschränkt sich die Kommentierung weitgehend auf einleitende Hinweise zu den Vorlagen und zum Goethebezug der Texte, elektronische Querverweise (Links), teils zu anderen Texten, vor allem aber zum Namenglossar, das hier den wesentlichen Teil der Erschließung übernehmen soll. Weitere Erläuterungen werden nur gegeben, wenn sie für das Verständnis unerläßlich erschienen.

Die Texte des jungen Goethe sind in der Regel der Ausgabe von Fischer-Lamberg entnommen. So weit Texte des jungen Goethe anderen Quellen entnommen wurden, gibt der Kommentar Auskunft. Die Vorlagen der anderen Texte sind jeweils in der Titelei angegeben. Es handelt sich dabei entweder um Orignalausgaben oder um wissenschaftlich betreute Ausgaben. Orthographie und Interpunktion der Texte wurden nicht vereinheitlicht, d. h. die der Ausgabe von Fischer-Lamberg entnommenen oder nach den Originalen wiedergegebenen Texte entsprechen der Originalorthographie, die anderen Texte den unterschiedlichen Modernisierungen ihrer Herausgeber. Die Zeichen |: :| bedeuten in Goethes Handschriften Klammern. Fußnoten in den Originalen wurden je nach Umfang und Textart behandelt: Wenn sie den Lesefluß nicht stören, wurden sie in eckige Klammern gesetzt, andernfalls in einen separaten, mit Links angeschlossenen Textbereich.

Die Verantwortung für die Dramatischen Schriften trägt Marianne Willems, für die Lyrik und die Briefauswahl Karl Eibl und für die Prosa Fotis Jannidis. Die Folio-Views-Version hat Karl Eibl besorgt. Die Suchmasken und die TEI-Version hat Fotis Jannidis erstellt. Eingaben über Tastatur und Scanner sowie Korrekturen wurden von Nicolai Vogel, Ursula Bell, Julia Böllhoff, Kerstin Fuchs, Ijoma Mangold, Katja Mellmann und Margit Roth durchgeführt. Für Ratschläge, Auskünfte und den Beitrag von einzelnen Texten danken wir Susanne Franz, Anselm Schubert, Cornel Zwierlein, Simone Winko, Gerhard Lauer und Friedrich Vollhardt.

Weitere Informationen geben die Online-Hilfe der CD, das Büchlein mit den technischen Hinweisen zur CD sowie die Webseite http://www.jgoethe.uni-muenchen.de

K. E. F. J. M. W.

Impressum:
Der junge Goethe in seiner Zeit
Herausgegeben von Karl Eibl, Fotis Jannidis und Marianne Willems(°)
Erste Auflage 1998
ISBN gebunden 3-458-16914-8
Taschenbuch 3-458-33800-4
Insel Verlag Frankfurt/Main
Text-Software Folio Views 4.11 von NextPage
Grafik-Software von Irfan Skiljan
Die Texte des Jungen Goethe entstammen, so weit nicht anders angegeben, der Ausgabe: Der junge Goethe. Neu bearb. 3. Ausgabe. 5 Bde. und 1 Reg.-Bd. Hrsg. v. Hanna Fischer-Lamberg. Berlin bzw. Bd. 5 und Reg.-Bd. Berlin und New York 1963 - 1974. (Sigle FL). Das Nähere jeweils im Kommentar. Die Herkunft der anderen Vorlagen wird jeweils unter dem Titel genannt. Wo kein spezieller Herkunftsvermerk steht, war das Original die Vorlage.


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