Das erste erhaltene Gedicht Goethes, ein Neujahrsglückwunsch für die Großeltern

Das verschnörkelte Titelblatt ist typisch. Es zeigt, wie sehr die kulturelle Atmosphäre der Freien Reichsstadt Frankfurt noch vom Geist des Spätbarock geprägt war. Typisch ist auch die Gattung des Gedichts: Es ist ein 'Casualcarmen', ein Gelegenheitsgedicht von der Art, wie sie damals bis zum Überdruß bei allen feierlichen Anlässen des bürgerlichen Lebens von Dilettanten oder auch von Fachleuten für Casualpoesie verfaßt wurden. Diese Art von Dichtung ist abgesunkenes Kulturgut, das den Prunk und Glanz des höfischen Festes nun auch auf bürgerliche Geburtstage, Hochzeiten, Begräbnisse oder, wie hier, familiäre Neujahrsfeiern ausbreiten möchte. 
Der 'erhabne GrosPapa' Textor war Stadtschultheiß der Stadt Frankfurt, so daß auch die traditionelle Herrscher-Topik angebracht werden konnte. Für die GrosMama blieb da nur die (gleichfalls topische) Entschuldigung für die allzu schlechten (schlichten) Verse und das Versprechen, künftig bessere zu liefern.

Es gilt als unwahrscheinlich, daß diese kunstvollen Verse im Vermaß des Alexandriners vom siebenjährigen Johann Wolfgang allein verfertigt und niedergeschrieben wurden.
 
 

Erhabner GrosPapa!
                                   Ein Neues Jahr erscheint,
Drum muß ich meine Pflicht und Schuldigkeit entrichten,
Die Ehrfurcht heist mich hier aus reinem Hertzen dichten,
So schlecht es aber ist, so gut ist es gemeint.
Gott, der die Zeit erneut, erneure auch Ihr Glück,
Und cröne Sie dies Jahr mit stetem Wohlergehen
Ihr Wohlseyn müsse lang so fest wie Cedern stehen,
Ihr Thun begleite stets ein günstiges Geschick;
Ihr Haus sey wie bisher des Segens Sammelplatz,
Und lasse Sie noch spät Möninens Ruder führen,
Gesundheit müsse Sie bis an Ihr Ende zieren,
Dann diese ist gewiß der allergröste Schatz.
Erhabne GrosMama!
                                   Des Jahres erster Tag
Erweckt in meiner Brust ein zärtliches Empfinden,
Und heist mich ebenfals Sie ietzo anzubinden
Mit Versen, die vielleicht kein Kenner lesen mag;
Indessen hören Sie die schlechte Zeilen an,
Indem sie wie mein Wunsch aus wahrer Liebe fliesen
Der Segen müsse sich heut über Sie ergiesen,
Der Höchste schütze Sie, wie er bisher getan.
Er wolle Ihnen stets, was Sie sich wünschen, geben,
Und lasse Sie noch oft ein Neues Jahr erleben.
Dies sind die Erstlinge, die Sie anheut empfangen,
Die Feder wird hinfort mehr Fertigkeit erlangen.
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