O wenn ich iezt nicht dramas schriebe: Stella

Fast so skandalisierend wie der Werther wirkte auf die Zeitgenossen das Schauspiel Stella, das im Frühjahr 1775 entstanden war und 1776 erschien: Fernando hat seine Gemahlin Cezilie verlassen und mit der jungen Stella gelebt. Auch sie hat er verlassen. Das Drama beginnt mit der Rückkehr Fernandos zu Stella und der Ankunft Cezilies am gleichen Ort. Es endet, nach manchen herzzerreißenden Szenen, mit dem Projekt einer Ehe zu dritt, nach dem Beispiel des sagenhaften Grafen von Gleichen:

CEZILIE. Er war ein Biedermann; er liebte sein Weib, nahm Abschied von ihr, empfahl ihr sein Hauswesen, umarmte sie und zog. Er zog durch viele Länder, kriegte, und ward gefangen. Seiner Sklaverei erbarmte sich seines Herrn Tochter; sie löste seine Fesseln, sie flohen. Sie geleitete ihn aufs neue durch alle Gefahren des Kriegs - Der liebe Waffenträger! Mit Sieg bekrönt gings nun zur Rükreise! - zu seinem edlen Weibe! - Und sein Mädgen! - Er fühlte Menschheit! - er glaubte an Menschheit, und nahm sie mit. - Sieh da die wakere Hausfrau, die ihrem Gemahl entgegen eilt; sieht all ihre Treue, all ihr Vertrauen, ihre Hofnungen belohnt; ihn wieder in ihren Armen. Und dann darneben seine Ritter, mit stolzer Ehre von ihren Rossen sich auf den vaterländischen Boden schwingend; seine Knechte abladend die Beute all, sie zu ihren Füssen legend; und sie schon in ihrem Sinn das all in ihren Schränken aufbewahrend, schon ihr Schloss mit auszierend, ihre Freunde mit beschenkend - Edles, theures Weib, der grösste Schaz ist noch zurük! - Wer ist's, die dort verschleiert mit dem Gefolge naht? - Sanft steigt sie vom Pferde - Hier! rief der Graf, sie bei der Hand fassend, seiner Frau entgegen führend, - Hier! sieh das alles - und sie! - Nimms aus ihren Händen - nimm mich aus ihren Händen wieder! Sie hat die Ketten von meinem Hals geschlossen, sie hat den Winden befohlen, sie hat mich erworben - hat mir gedient, mein gewartet! - -  Was bin ich ihr schuldig? - Da hast du sie! - belohn sie!
FERNANDO. liegt schluchsend mit den Armen über'n Tisch gebreitet :|
CEZILIE. An ihrem Hals, rief das treue Weib, in tausend Trähnen rief sie: Nimm alles was ich dir geben kann! Nimm die Helfte des, der ganz dein gehört - Nimm ihn ganz! Lass mir ihn ganz. Jede soll ihn haben, ohne der andern was zu rauben - Und rief sie an seinem Hals, zu seinen Füssen: Wir sind dein! - -  - Sie fassten seine Hände, hingen an ihm - Und Gott im Himmel freute sich der Liebe, und sein heiliger Stadthalter sprach seinen Seegen dazu. Und ihr Glük, und ihre Liebe fasste seelig Eine Wohnung, Ein Bett und Ein Grab.
FERNANDO. Gott im Himmel, der du uns Engel sendest in der Noth, schenk uns die Kraft diese gewaltige Erscheinungen.

War Werther als Apologie des Selbstmordes aufgefaßt worden, so galt Stella nun als Propagierung der Bigamie. Ein Zeitgenosse schuf einen sechsten Akt dazu, in dem die Obrigkeit beschließt,

daß "der Landstreicher und  angebliche Baron Fernando, wegen begangnen Jungferraub, Meineid, Ehebruch, Vielweiberey, Diebstahl und andern überwiesnen schweren Verbrechen in Verhaft genommen, Andern zur Warnung am Pranger gestellt, alsdann in Eisen geschmiedet, und auf Lebenszeit zum Festungsbau verdammt seyn soll. Von Rechts wegen."

Ein anderer Fortsetzer meinte es besser mit den Figuren und spendierte einen Zwillingsbruder Fernandos, mit dem Stella glücklich sein konnte. Goethe selbst arbeitete den Schluß 1806 für eine Weimarer Aufführung um und ließ Stella Gift nehmen, Fernando sich erschießen. So wurde das Stück dann seit der Gesamtausgabe von 1816 gedruckt.
 


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