Der Durchbruch: Götz von Berlichingen II

Das also soll das Stück sein, das den Ruhm des bedeutendsten deutschen Dichters begründete:

Boie! Boie! Der Ritter mit der eisernen Hand! Ich weiß mich vor Enthusiasmus kaum zu lassen. Womit soll ich dem [noch anonymen] Verfasser mein Entzücken entdecken? Den kann man doch noch den deutschen Shakespeare nennen, wenn man einen so nennen will.... Welch ein durchaus deutscher Stoff! Welch kühne Verarbeitung! Edel und frei, wie sein Held, tritt der Verfasser den elenden Regelnkodex unter die Füße und stellt uns ein ganzes Evenement, mit Leben und Odem bis in seine kleinsten Adern beseelt, vor Augen. Erschütterung, wie sie Shakespeare nur immer hervorbringen kann, habe ich in meinem innersten Mark gefühlt. Mitleid! Schrecken! - Grausen, kaltes Grausen, wie wenn einen kalter Nordwind anweht! Götzens kleiner Junge! Die Zigeunerszene, die auf dem Rathause, der sterbende Weislingen, das heimliche Gericht! Gott! Gott, wie lebendig, wie shakespearisch! O ich kann selbst nicht sagen, wie vortrefflich! - Glück zu dem edelen freien Mann, der der Natur gehorsamer als der tyrannischen Kunst war! Mag doch das Rezensentengeschmeiß, mag doch der Lesepöbel, der die Nase beim Schnickschnack der Orsina [Lessing, Emilia Galotti] rümpfte, bei dem A-lecken den Rüssel verziehn! Solches Gesindel mag diesem Verfasser im - -. O Boie, wissen Sie nicht, wer es ist? Sagen Sie, sagen Sie mir's, daß ihm meine Ehrfurcht einen Altar baue. Ich behalte das Stück; will's gerne bezahlen, und wenn es auch noch soviel kostete und wenn ich alle Werke Voltaires und Corneilles darum verkaufen sollte. Corneille! - armseliger Bel zu Babel! Wer mag wohl solch leimenem Götzen Ehre erweisen? Le grand Corneille? Sch-kerl! Sch-kerls alle Franzosen!

Dieser Brief Gottfried August Bürgers an  Heinrich Christian Boie (8. 7. 1773) ist in all seinen Wendungen typisch für das Echo des Götz bei der ästhetischen Avantgarde. Als dieses scheinbar unspielbare Stück dann am 14. April 1774 gar noch erfolgreich in Berlin uraufgeführt wurde, war der Durchbruch geschafft - der Durchbruch Goethes und des Sturm und Drang. Um welchen Preis?
Gotthold Ephraim Lessing schreibt an seinen Bruder Karl Gotthelf  30. 4. 1774:

Daß Götz von Berlichingen großen Beifall in Berlin gefunden, ist, fürchte ich, weder zur Ehre des Verfassers noch zur Ehre Berlins. Meil [hatte die Kostüme entworfen] hat ohne Zweifel den größten Teil daran. Denn eine Stadt, die kahlen Tönen nachläuft, kann auch hübschen Kleidern nachlaufen.

Lessing hat das Problem wohl richtig erkannt. Götz von Berlichingen wurde tatsächlich zum Vorbild einer Flut von nationalen Ritterspektakeln und Ausstattungsstücken. Das oben wiedergegebene Bild von J.F.W. Tischbein entspricht dieser Auffassung, und auch die spätere Götz-Rezeption hat daran kaum etwas geändert.

Verloren ging dabei die gehaltliche Tiefendimension: Das Drama als Spiel von der Grundlegung der modernen Welt. Es wäre an der Zeit, daß ein Regisseur diese Dimension freilegte.

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