Was
wir von Natur sehn, ist Kraft, die Kraft verschlingt nichts gegenwärtig
alles vorübergehend, tausend Keime zertreten jeden Augenblick tausend
gebohren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön
und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte neben
einander existirend. Und die Kunst ist gerade das Widerspiel, sie entspringt
aus den Bemühungen des Individu[u]ms, sich gegen die zerstörende
Kraft des Ganzen zu erhalten. Schon das Thier durch seine Kunsttriebe scheidet,
verwahrt sich; der Mensch durch alle Zustände befestigt sich gegen
die Natur, ihre tausendfache Übel zu vermeiden, und nur das Maas von
Gutem zu geniessen; bis es ihm endlich gelingt, die Cirkulation aller seiner
wahr und gemachten Bedürfnisse in einen Pallast einzuschließen,
so fern es möglich ist, alle zerstreute Schönheit und Glückseligkeit
in seine gläserne Mauern zu bannen, wo er denn immer weicher und weicher
wird, den Freuden des Körpers Freuden der Seele substituirt, und seine
Kräfte von keiner Widerwärtigkeit zum Naturgebrauche aufgespannt,
in Tugend, Wohlthätigkeit, Empfindsamkeit zerfliessen.
Im Werther wird er die zu Grunde liegende Naturwahrnehmung, geschützt durch die fiktionale Rollenrede, noch etwas forcierter formulieren. Auch das Paradebeispiel der Zeit für verwirrende Vorgänge in der Natur, das Erdbeben von Lissabon, wird überboten durch die Verallgemeinerung zum "All der Natur":
Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den Abgrund des ewig offnen Grabs. Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht, da alles mit der Wetterschnelle vorüber rollt, so selten die ganze Kraft seines Daseyns ausdauert, ach in den Strom fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird. Da ist kein Augenblik, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her, kein Augenblik, da du nicht ein Zerstöhrer bist, seyn mußt. Der harmloseste Spaziergang kostet tausend tausend armen Würmgen das Leben, es zerrüttet ein Fustritt die mühseligen Gebäude der Ameisen, und stampft eine kleine Welt in ein schmähliches Grab. Ha! nicht die große seltene Noth der Welt, diese Fluthen, die eure Dörfer wegspülen, diese Erdbeben, die eure Städte verschlingen, rühren mich. Mir untergräbt das Herz die verzehrende Kraft, die im All der Natur verborgen liegt, die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich selbst zerstörte. Und so taumele ich beängstet! Himmel und Erde und all die webenden Kräfte um mich her! Ich sehe nichts, als ein ewig verschlingendes, ewig wiederkäuendes Ungeheur.
Es geht nicht mehr um dekorative Schönheit. Kunst wird zu einem existentiell notwendigen Mittel der Selbstbehauptung. Über Kunst kann die Individualität sich gegen ihren Widerpart, die Zerstörungskraft der Natur, 'scheiden', 'verwahren', 'befestigen'. Im Aufsatz Von deutscher Baukunst (1773) heißt es:
Die
Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch, so wahre, große
Kunst, ja, oft wahrer und größer, als die Schöne selbst.
Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich thätig
beweist, wann seine Existenz gesichert ist. Sobald er nichts zu sorgen
und zu fürchten hat, greift der Halbgott, wirksam in seiner Ruhe,
umher nach Stoff ihm seinen Geist einzuhauchen. Unso modelt der Wilde mit
abenteuerlichen Zügen, gräßlichen Gestalten, hohen Farben,
seine Cocos, seine Federn, und seinen Körper. Und laßt diese
Bildnerey aus den willkürlichsten Formen bestehn, sie wird ohne Gestaltsverhältniß
zusammenstimmen, denn Eine Empfindung schuf sie zum karackteristischen*
Ganzen.
Diese karackteristische Kunst, ist nun
die einzige wahre.
Wenn der 'Halbgott' dem 'Stoff' seinen Geist 'einhaucht'
- wer dächte da nicht an Prometheus? Aber diese Produktivität
ist nicht souveräne Willkür, sondern entspringt dem Bedürfnis,
"sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten"!