Dichterruhm: Die Inszenierung des Auftritts 1773

Es ist, als ob der 'Frankfurter Zeitungsschreiber' Goethe seinen Auftritt als Essayist und Dichter seit der Rückkehr aus Wetzlar systematisch für das Jahr 1773 geplant und vorbereitet hätte: Ende 1772 erscheint (mit Jahresangabe 1773) sein Essay Von deutscher Baukunst, hymnischer Preis der Fassade des Straßburger Münsters und ihres Architekten Erwin von Steinbach - und zugleich Proklamation einer neuen Ästhetik. Anfang 1773 folgt der Traktat  Brief des Pastors zu * * * an den neuen Pastor zu * * *, der - als Rollenrede eines einfachen Landpastors maskiert - Religiosität konsequent aus der Sicht einer neuen Individualitätsauffassung konzipiert, wenig später die beiden religionsphilosophischen Abhandlungen Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen. Die Bedeutung solcher bibelexegetischer Unternehmungen erschließt sich uns nicht mehr unmittelbar, doch man möge bedenken, daß Grundfragen des Welt- und Lebensorientierung damals noch fast selbstverständlich im Medium der religiösen Sprache abgehandelt wurden. Die Reaktion Johann Caspar Lavaters auf die Fragen mag den Stellenwert solcher Untersuchungen verdeutlichen: "Ich kann nur - zittern, glühen, schweigen - aber nicht aussprechen - wie sehr ich wünsche - mehr große Winke, ausgedachte Ahndungen meiner Seele - von Ihnen zu sehen - zu empfangen" (1. 9. 1773) Schon im Mai 1773 erscheint der Aufsatz Von deutscher Baukunst erneut, nun in der 'Flugschrift' "Von deutscher Art und Kunst", die Herder herausgab und die u. a. auch dessen Aufsätze "Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker" und "Shakespear" enthielt.

Im Herders Shakespeare-Aufsatz ereignete sich am Ende eine geradezu atemberaubende Szene (ein genialer Fall von Buchpromotion): Nach einem gewaltigen Lobpreis des Shakespeare beklagt Herder, daß auch dieses Genie uns immer ferner werde und veralte - und preist als das neue Genie seinen Freund Goethe:

Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieser grosse Schöpfer von Geschichte und Weltseele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeitalter, wie ein Herbst von Blättern welken und absinken, wir schon jetzt aus diesen grossen Trümmern der Ritternatur so weit heraus sind, daß selbst Garrik, der Wiedererwecker und Schutzengel auf seinem Grabe, so viel ändern, auslaßen, verstümmeln muß, und bald vielleicht, da sich alles so sehr verwischt und anders wohin neiget, auch sein Drama der lebendigen Vorstellung ganz unfähig werden, und eine Trümmer von Kolossus, von Pyramide seyn wird, die Jeder anstaunet und keiner begreift. Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als Einmal umarmet, wo du noch den süssen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal aus unsern Ritterzeiten in unsrer Sprache, unserm so weit abgearteten Vaterlande herzustellen. Ich beneide dir den Traum, und dein edles Deutsches Würken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und solltest du als denn auch später sehen, wie unter deinem Gebäude der Boden wankt, und der Pöbel umher still steht und gafft, oder höhnt, und die daurende Pyramide nicht alten Ägyptischen Geist wieder aufzuwecken vermag - dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nachkomme dein Grab suchen, und mit andächtiger Hand dir schreiben, was das Leben fast aller Würdigen der Welt gewesen:
Voluit! quiescit!

Im Monat darauf wird Götz von Berlichingen erscheinen.
 


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