Trübe Berufsaussichten

Ausbildung, familiärer Hintergrund und Vermögensverhältnisse hätten Goethe dazu prädestiniert, in eine Ratsstelle einzurücken. Aber mit der Berufung der Oheims Johann Jost Textor in den Rat (1771) war dieser Weg vorerst verschlossen, weil man in Frankfurt die Kumulation in den Händen einzelner Familien vermeiden wollte. Textor war nur 10 Jahre älter als Goethe; ein Warten auf sein Ableben erschien nicht sehr aussichtsreich. Auf das Praktikum am Reichskammergericht hätten als weitere Standardstationen der juristischen Ausbildung nun Aufenthalte beim 'Ewigen Reichstag' in Regensburg und beim 'Reichshofrat' in Wien sowie eine Italienreise zum Zweck des Studiums der dortigen seltsamen Staatsverfassungen folgen können, vielleicht auch noch ein Aufenthalt in der Metropole der Welt, Paris. Diesen langen Weg war auch der Vater schon gegangen, ohne großen Erfolg, wie man sah. Die Rechtsanwaltspraxis, das Herumstochern in den kleinteiligen Alltagsstreitereien der Reichsstadt, bot keine erfüllende Perspektive. Denkbar waren ferner "Residentschaften, Agentschaften" (diplomatische Vertretungen fremder Fürsten, Handelsvertretungen), die aber auch "nur beym ersten Anblick vortheilhaft und ehrenhaft zugleich" erschienen (Dichtung und Wahrheit 17). Blieb also nur das Einrücken in 'fremde Dienste', d. h. die Beamtentätigkeit in einem der vielen Fürstentümer, wie Merck sie in Hessen-Darmstadt oder Schlosser neuerdings in Baden ausübte.

Etwas in dieser Art scheint sich in Hannover geboten zu haben, wie einem Brief an Kestner vom 25. 12. 1773 zu entnehmen ist.

Die Stelle in deinem Brief die einen Winck enthält von möglicher Näherung zu euch ist mir durch die Seele gangen. Ach es ist das schon so lange mein Traum als ihr weg seid. Aber es wird wohl auch Traum bleiben. Mein Vater hätte zwar nichts dagegen wenn ich in fremde Dienste ginge, auch hält mich hier weder Liebe noch Hoffnung eines Amts - und so scheint es könnt ich wohl einen Versuch wagen, wieder einmal wie's draussen aussieht. Aber Kestner, die Talente und Kräffte die ich habe, brauch ich für mich selbst gar zu sehr, ich binn von ieher gewohnt nur nach meinem Instinckt zu handlen, und damit könnte keinem Fürsten gedient seyn. Und dann biss ich politische Subordination lernte - Es ist ein verfluchtes Volck die Franckfter, pflegt der Präs. v. Moser zu sagen, man kan ihre eigensinnigen Köpfe nirgends hin brauchen. Und wenn auch das nicht wäre, unter all meinen Talenten ist meine Jurisprudenz der geringsten eins. Das bissgen Theorie, und Menschenverstand, richtens nicht aus - Hier geht meine Praxis mit meinen Kenntnissen Hand in Hand, ich lerne ieden Tag, und haudere mich weiter. - Aber in einem Justiz Collegio - Ich habe mich von ieher gehütet ein Spiel zu spielen da ich der unerfahrenste am Tisch war - Also - doch möcht ich wissen ob deine Worte etwas mehr als Wunsch und Einfall waren.
Ein seltsam unentschieden-abwehrendes Gemisch von Argumenten, aus denen aber heraussticht, daß er seine "Talente und Kräffte" für 'sich selbst' braucht: Zu den pragmatischen Begründungen tritt, für den Adressaten vielleicht gar nicht verständlich, das Argument der Selbstbildung, in dem ein neues Persönlichkeitsideal aufleuchtet. Goethe hat inzwischen erfahren, wie er mit seinen 'Talenten und Kräfften' an einem großen Ganzen wirken kann: Er war der gefeierte Dichter des Götz von Berlichingen.

Ein "Wargestalltruckprallinger" ist übrigens ein Spiegel.
 


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