Hermetik, Eklektik, Consensus

Das Frankfurter Intervall von 1768-1770 galt früher als Goethes 'pietistische' Periode. Daran ist richtig, daß Goethe mit pietistischen und herrnhutischen Kreisen in Kontakt trat und sich auch deren Vokabular aneignete. So schreibt er am 17. 1. 1769 an den Leipziger Freund Langer:

Petrus war auch in unserm Gusto, ein rechtschaffner Mann, biss auf die Furchtsamkeit. Hätte er fest geglaubt der Jesus habe Macht über Himmel Erde und Meer, er wäre über's Meer trocknen Fusses gewandelt, sein Zweifel machte ihn sincken. [Bibel: Matth. 14,29ff] Sehen Sie lieber Langer es steht kurios mit uns; Mich hat der Heiland endlich erhascht, ich lief ihm zu lang und zu geschwind, da kriegt er mich bey den Haaren. [Bibel: Hesekiel 8,3] Ihnen jagt er gewiss auch nach, und ich wills erleben dass er Sie einhohlt, für die Art nur möchte ich nicht gut sagen. Ich binn manchmal hübsch ruhig darüber, manchmal wenn ich stille ganz stille binn, und alles Gute fühle was aus der ewigen Quelle auf mich geflossen ist. Wenn wir auch noch so lange irre gehn, wir beyde, am Ende wirds doch werden.

Neuere Forschungen (bes. Rolf Christian Zimmermann) haben aber gezeigt, daß das 'pietistische' Milieu einen Erfahrungs- und Gedankenschatz besonderer Art bereithielt: Über seinen Arzt, Johann Friedrich Metz, und die Hausfreundin Susanna Katherina von Klettenberg kommt Goethe in intensiveren Kontakt mit der hermetischen, kabbalistischen, alchimistischen Tradition, mit Werken wie Georg von Wellings "Opus Mago-cabbalisticum" (dem unsere Abbildung des Kosmos entstammt) und der "Kirchen- und Ketzergeschichte" von Gottfried Arnold. Die hermetische Tradition steht in Konflikt mit den systematischen Tendenzen der aufklärerischen Schulphilosophie, sucht die Wahrheit im Eklektizismus, im Consensus der Religionen, in der Alchimie, und weiß deshalb auch allerlei obskurem Strandgut eine Teilhabe an der Wahrheit zuzugestehen. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Forschung aufgedeckt, in wie hohem Maße Hermetik und Eklektizismus gerade auch für die Intellektuellen der Aufklärungszeit eine eigene Faszinationskraft besaßen. Allerdings weniger im Sinne einer festen dogmatischen Lehre, sondern vielmehr als Sammelbecken unterschiedlicher nichtorthodoxer Bild- und Gedankenfiguren, die auf den Consensus verweisen. Für Goethe kann die Begegnung mit diesem Gedankengut als eine der prägenden Kräfte seiner poetischen Konzeption rekonstruiert werden: Wenn die Wahrheit zwar spontan erfahren werden, aber immer nur in defizienter Form in ein festes Medium übergeführt werden kann, dann ist die 'uneigentliche' (undogmatische) Rede der Dichtung die adäquateste Form, diese Wahrheit erinnernd zur Geltung zu bringen. Selbst seine späten Äußerungen zur "Weltliteratur" beruhen auf dieser Grundfigur, daß ein unsichtbares 'Allgemeinmenschliches' in verschiedenen Nationen nach deren unterschiedlichen Bedingungen in die Erscheinung trete.
 


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