Straßburger Erkundungen II: Herder

Der junge Goethe suchte immer wieder die Nähe von Menschen, die ihn herausforderten. In Leipzig war das Behrisch, später dann in Frankfurt Merck, dann Lavater, Jacobi ... Die bedeutendste Figur dieser Art war  Herder. Einen kleinen direkten Zugang zu dem spannungsgeladenen Verhältnis mag ein Brief geben, den Goethe bald nach der Rückkehr nach Frankfurt an ihn schrieb (welchen Anlaß es für diesen Brief gab, wissen wir nicht):

Ich zwinge mich Ihnen in der ersten Empfindung zu schreiben. Weg Mantel und Kragen! Ihr Niesewurz Brief ist drey Jahre alle Tags Erfahrungen werth. Das ist keine Antwort drauf, und wer könnte drauf antworten?
Mein ganzes Ich ist erschüttert, das können Sie dencken, Mann! und es vibrirt noch viel zu sehr als dass meine Feder steet zeichnen könnte.
Apollo vom Belvedere warum zeigst du dich uns in deiner Nacktheit, dass wir uns der unsrigen schämen müssen.
Spanische Tracht und Schmincke!
Herder, Herder. Bleiben Sie mir was Sie mir sind.
Binn ich bestimmt Ihr Planet zu seyn so will ich's seyn, es gern, es treu seyn Ein freundlicher Mond der Erde.
Aber das - fühlen sie's ganz - dass ich lieber Merckur seyn wollte der letzte, der kleinste vielmehr unter siebnen, der sich mit Ihnen um Eine Sonne drehte; als der Erste unter fünfen die um den Saturn ziehn.
Adieu lieber Mann. Ich lasse Sie nicht los. Ich lasse sie nicht! Jakob rang mit dem Engel des Herrn.[Bibel: 1. Mose 32,25-30]  Und sollt ich lahm drüber werden.
Morgen soll Ihr Ossian gehn.
Jetzt eine Stunde mit Ihnen zu seyn wollt ich mit / bezahlen.
lch lese meinen Brief wieder, ich muss ihn gleich siegeln. Morgen kriegten Sie ihn nicht.

Obwohl nur fünf Jahre älter als Goethe, war Herder bereits ein bekannter Autor. In Straßburg hielt er sich von September 1770 bis April 1771 auf, um sich von einem dortigen Chirurgen eine Augenfistel kurieren zu lassen - erfolglos. Goethe nutzte die Isolation des Leidenden geschickt (und geduldig), und bekam nun unmittelbaren Anschluß an das aktuelle literarische Geschehen.

In Leipzig hatte ich mir eher ein enges und abgezirkeltes Wesen angewöhnt, und meine allgemeinen Kenntnisse der deutschen Litteratur konnten durch meinen Frankfurter Zustand nicht erweitert werden; ja mich hatten jene mystisch-religiösen chemischen Beschäftigungen in dunkle Regionen geführt, und was seit einigen Jahren in der weiten literarischen Welt vorgegangen, war mir meistens fremd geblieben. Nun wurde ich auf einmal durch Herder mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien. Er selbst hatte sich schon genugsam berühmt gemacht, und durch seine Fragmente, die kritischen Wälder und anderes unmittelbar an die Seite der vorzüglichsten Männer gesetzt, welche seit längerer Zeit die Augen des Vaterlands auf sich zogen.

In Straßburg arbeitete Herder an seiner nachmals berühmten Preisschrift "Über den Ursprung der Sprache", doch erfuhr Goethe auch vieles, was Herder erst später veröffentlichte, etwa Gedanken aus seiner Abhandlung "Plastik" (1778) und vor allem seine Gedanken zur Bibel, zu Homer, zu Shakespeare und zum Volkslied als den Zeugnissen einer 'ursprünglichen' Poesie.
 


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