Goethe hatte, wie er in "Dichtung und Wahrheit" schildert, Momente seiner unerwiderten Liebesbeziehung zu Charlotte Buff und seiner Freundschaft zu ihrem Verlobten und späteren Ehemann Johann Kestner, im Roman verwendet. Aber auch Elemente seiner Freundschaft zur jungen Maximiliane von Brentano, die der Ehemann argwöhnisch beobachtete, waren in die Romanhandlung eingegangen, und seine Schilderung von Werthers Selbstmord lehnt sich eng an den Bericht über den sensationellen Selbstmord des jungen Jerusalem an. Diese Wirklichkeitsbezüge waren dem zeitgenössischen Publikum bald bekannt und gaben der tragischen Darstellung das Gewicht einer wahren Geschichte. Dies verstärkte noch den Eindruck, den die innovative Handhabung erzählerischer Mittel hervorrief, daß der Held des Romans trotz, ja wegen seiner in den Augen der Zeitgenossen so herrlichen Anlagen ganz notwendig auf den Untergang zusteuerte. Da im Roman jegliche Distanzierung vom Selbstmord Werthers fehlt - und der Selbstmord galt immerhin religiös als Todsünde und juristisch als schweres Verbrechen -, geriet das Buch bald ins Kreuzfeuer der orthodoxen Kritik und wurde stellenweise sogar verboten. Ein Verbot, das der Obrigkeit um so notwendiger erschien, als sehr bald Berichte über Selbstmörder erschienen, bei denen man den inkriminierten Roman gefunden haben wollte. Ein Jahr später stellte Goethe dann auch der 'zweyten ächten Auflage' seines Romans zwei Motti voran:
Vor das erste Buch:
Jeder Jüngling sehnt sich so zu lieben,
Jedes Mädchen so geliebt zu sein;
Ach, der heiligste von unsern Trieben,
Warum quillt aus ihm die grimme Pein?
Vor das zweite Buch:
Du beweinst, du liebst ihn, liebe Seele,
Rettest sein Gedächtnis von der Schmach;
Sieh, dir winkt sein Geist aus seiner
Höhle:
Sei ein Mann, und folge mir nicht nach.