Wertherwirkung I: Begeisterte Aufnahme

Werther konnte zur Identifikationsfigur für Melancholiker werden. Das Bild gibt einen Eindruck davon. Er konnte darüber hinaus auch zu einem lebenspraktischern Kommunikationsmedium werden, das die Artikulation von Empfindungen und Konstellationen ermöglichte und als Verständigungsbasis diente. In der Sammlung Kippenberg befindet sich ein Brief, der diese Werther-Wirkung ungefiltert dokumentieren kann:

Bonjour meine allerliebste Amalie
Meine Göttliche Freundin
Diesen Augenblick erhalte ich dein Billet - und in den ersten Aufwallungen der Freude über deßen innhalt, ergreife ich sogleich die Feder, um meinen Ideen freyen lauff zu lassen - Wie? Amalie ists! Die mir mit einen so naifen so Aufrichtig scheinenden Ton sagt "alles in der welt mag deine Drohung bedeuten, nur nicht den verlust deiner Freundschafft. " Göttliches! Bestes Mädchen! laß dich für diese worte umarmen, 100000 mahl embrassiren aber - ists auch gewis - und wircklich so - und ist es bloß etourderie, wenn deine Handlungen das Gegentheil zu beweisen Scheinen - Nun! ich will es zu meiner Beruhigung vor wahr und infaillible annehmen und dem Vergnügen, (dir so beneidenswerthe Gesinnung eingeflöst zu haben) mich mit ganzer Seele überlaßen. O gewiß, etwas weniges von Schwärmerey! die Werthers leiden [Die Leiden des jungen Werthers] angefacht, und Amaliens Freundschafftliche Ausdrüke in eine Art von Wirklichkeit gesezt - denn bey Mir hatt Liebe und Freundschafft ähnliche Wirkungen, und ist gerade eben daßelbe, weil meiner Seele (wenn sich keine Vanite Einmischt) mit unsres Helden Seele fast gleichstimmig empfindet - Viel Ehre - Zuviel Ehre periat Eitelkeit*** höre! bestes Mädchen, laß Dir über eine gewiße Stelle in Deinen Brieff meine aufrichtige Meinung sagen - dein Vetter hatt alle schöne Stellen herausgeklaubt--hergesagt, und folglich zu beurtheilen gewußt - Gut! Das macht seinen Verstande Ehre und nun scheint Er Mir auch schon interressanter als sonst, aber wenn es seinen Herzen Ehre machen solte - o so müste man nicht wissen, daß Er sehr epicurisch denkt und handelt / Nimm dieses als einen beweis an daß ich dich für ein mehr als Gewöhnliches Mädchen ansehe, denn ich wage viel denn keine niedrige wollust, / Ich meine eine solche, der jedes Mädchen gleich ist / kann in der Seele eines solchen Menschen statt finden, das behaupte ich kühnlich und getraue es mir zu beweisen. - /
O du bedaurenswürdiger Sterblicher, dem sein Schicksal mit solchen abendtheuerlichen Gesinnung in eine Welt versezt hatt wo man seine Schwärmerey für Narrheit und seine heroische Entschließung für rasenden Unsinn ansieht, nur in einer Sphaere von Wesen die Dir gleichen, kanstu eigentlich glüklich sein, was hast du unter dem Mond zu thun  -  Entschließe dich und stirb - das war mein Urtheil, als unsre ganze Clerisey dieses göttliche Buch vor die Geschichte eines Narren hielt - o Amalie! Amalie! Frage Frau Minchen, welch ein trauriges Geschenck der Natur ein gar zu fühlbares Herz ist - Suche das Deinige zu verstehlen, wenn du glüklich hiernieden sein, und vor weise passiren willst  - verscheuche alle ideen, welche eine gar zu hoch gespannte Einbildungskrafft hervor bringt - denn nie wirst du einen Werther finden, und nie wird selbst derjenige der Werther am Meisten gleicht, so dencken, und handlen können, wenn Er nicht ein Wesen von höherer art als die gewöhnlichen Menschen Kinder ist.
Doch genug - genug, ich will nur noch soviel sagen daß ich nie ein Buch gelesen habe, welches mich mit solch Theilnehmender Empfindung angestekt hätte - Mir schauderte bey dem Auftritt wo Er den ossian vorliest - wo Er abschied nimmt - und der Ausdruk -
-"zum Erstemahl durchdrang meine Seele das Wonnegefühl Sie liebt mich" war mir sehr einleuchtend - aber! was fühlte ich bey der Stelle "(es schlägt 12 die Pistole ist geladen so sey es denn! leb wohl Lotte leb ewig wohl)" hilf Himmel! ich glaube Lotte Selbst konnte dabey nicht Mehr empfunden haben - Viel gesag! (Hier fliesen neue Thränen - welch eine Thorheit!) O dachte ich in dem Augenblick, es ist doch nichts so schlimm es ist zu etwas gut, welch eine fühlbare Unglückliche Creatur wurdest du sein, wenn leichtsin und Eitelkeit dich nicht eines so schrecklichen attachemens unfähig machten - und siehe da! ich wuste mirs zum ersten mahl danck daß ich bis her nur Eitelkeit, nur die Oberfläche eines gerührten Herzens gesehen -  der Himmel bewahre Mich -
Genug! Genug hiervon ists doch als ob ich behext bin, mit philosophiren über das Buch - nun etwas Neues zu Markte gebracht -  und nicht so traurig wie das Vorige - du hast also Briefe von der Geliebten Louise - nun ich muß den lezten sehen, ich muß urtheilen welche Schilderung du gemacht hast - mais pourquoi ne la verrai je qu'en partie - y a t'il du Mistere! Entre Vous -  Y a t'il des Nouvelles de M.
Doch - hm - ja, ich will von liebe nichts mehr wißen etc. Ey seht doch  -  was das vor oino Entschließung ist! Da wird gewaltig protestirt und appellirt werden und am Ende - wie heißts -  wie sagt Cronegk:
was ich für Freundschafft angesehen, war Amor in der Freundschafft Kleid -
dann adieu! Sprödigkeit - und Freyheit und alles - Doch nein was sag' ich Ist das der Ton worin ein Frauenzimmer spricht -  vive la Chere Liberte! Ich sehe wohl, ich habe heute kein Talent zum Comischen, ich bin auf Werthers Ton gestimmt - und tauge Nichts dich zu belustigen - sondern zu - darf ich sagen zu rühren - n'en deplaise a a - ich weis ma foi nicht was ich schreibe, noch wen'ger was ich dencke - aber das weis ich! daß ich / nicht mit Ergebenheit (Ein wort das dir nicht gefällt) / sondern mit wahrer Entousiastischer Freundschafft und den hochachtungsvollsten Gesinnungen bin
chere Amalie
Votre
tres devouée
Auguste
*** stelle dir einmal vor, wie Werther von der Fräul. B. spricht, die Er am Hofe antrifft! - als sie Ihm, in Gegenwart der Unwissenden und unfühlbaren hochadelichen Hof Närrinnen kaltsinnig begegnet, Er sagt Wie? ist sie auch wie all' das Volck - gleicht sie meiner Lotte nicht -  hol sie der Popanz (Wem gleicht dieses Portrait! Gewiß Mir! Gewiß Deiner Auguste -
 


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